Freitag, 25. März 2011

Beiläufiges zur Methode

In Diskussionen zu tagesaktuellen Themen stelle ich immer mal wieder fest, dass ich bei weitem nicht so viele Einzelheiten dazu anzugeben weiß, wie mancher Mitdiskutant (allerdings öfter noch durchaus mehr als manch anderer Mitdiskutierender). Woher die Leute die Zeit nehmen, sich so detailfreudig zu informieren, ist mir ein Rätsel. Mir genügen oft die groben Züge oder ein bestimmtes Detail, um mir eine, wie ich meine, angemessene, weil begründbare Meinung zu bilden. Trotzdem meinen manchmal manche, ich müsste, wüsste ich um diese oder jene von mir anscheinend nicht bedachte Einzelheit, meine Meinung ändern. Allerdings habe ich bisher meist die Erfahrung gemacht, nicht mein Urteil ändert sich, wenn ich noch mehr beiläufiges Material berücksichtige, sondern nur die Umständlichkeit, mit der es zu erklären ist. Man kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen und vor lauter Argumenten sieht man die Kriterien nicht mehr und unter lauter Informationen wird die Wahrheit begraben.
Nun wäre es selbstverständlich falsch, sich aus Gründen bornierter Parteilichkeit und schierer Voreingenommenheit nur auf das zu beschränken, was einem in dem bestätigt, was man sowieso schon zu wissen glaubt. Andererseits wissen viele viel und verstehen doch nichts. Die gleichsam mittlere Lösung besteht für mich darin, nicht alles über alles, sondern bloß Relevantes über Bestimmtes wissen zu wollen. Wie man dahin gelangt, ist freilich im voraus nicht festgelegt, sondern eine Frage des Gespürs, der Intuition, der produktiven Einbildungskraft. Sowie ein klares Bewusstsein der eigenen Grundsätze.
Wenig hilfreich scheint mir nämlich der allzu überbordende Konsum meinungsstarker Medien. Bei allem Respekt vor gutem Jornalismus meine ich doch, dass eine gewisse intellektuelle Abgestumpftheit, ja Herzensroheit dazugehört, täglich mehrere Zeitungen zu lesen. Man müsste wohl ein Karl Kraus sein, um derlei unbeschadet zu überstehen, aber wer ist das schon. Die Wirklichkeit, so meine ich, besteht ja auch nicht aus den fein gesponnenen Synthesen irgendwelcher Leitartikel und spiegelt sich darin auch nicht unverzerrt wieder, sondern sie muss aus dem Rohmaterial der unzähligen heterogenen, widersprüchlichen, für sich genommen oft bedeutungsarm scheinenden Schnippseln und Splittern rekonstruiert werden, die aus Zufall oder selbst erst wieder herbeizudeutender Notwendigkeit durch die Kanäle des öffentlichen und privaten Lebens gespült werden.
Dass damit kein Plädoyer für das Geschwätz der virtuellen Stammtische des Internets gehalten werden soll, versteht sich hoffentlich von selbst. Auch dort geht es meinungsstark zu, nur dass die allermeisten Meinung noch weniger begründet sind als dort, wo handwerkliches Können und redaktionelle Einbindung gewisse Korrektive gewähren.
Eher scheint es mir sinnvoll, die verschiedenen Medien gegeneinander auszuspielen, hier das und dort jenes aufzuschnappen, niemals aber alles mitzunehmen und über dem Geordneten und Zugerüsteten das Zufällige und Rohe nicht zuvergessen. Um sich die Rosinen aus dem Kuchen picken zu können, muss man freilich unterscheiden können, was Rosine ist und was versehentlich mitgebackene Kakerlake. Extrapolation ist eben eine Kunst, die sich nicht jeder zutrauen sollte.
Beschränken aber muss man sich, sonst wird man beschränkt. Zu viele Details führen mit ziemlicher Sicherheit bei den meisten Medienkonsumenten zu Betriebsfehlsichtigkeit. Allzu viel gängige Informiertheit lässt leicht den kritischen Überblick verlieren und mit dem Hauptstrom schwimmen. Nicht, dass Vorurteile besser wären als Nachprüfungen, aber wer meint, das wahre Wissen zwanglos aus den üblichen Diskursen schöpfen zu können, sitzt schließlich doch bloß einem großen Haufen von Vorurteilen auf.
Es gibt auch da wohl eine Art Konformismus zweiter Stufe, ich nennen ihn den Hyperkonformismus, der darin besteht, nicht, nach Art der Konformisten, so denken zu wollen, wie man eben so denkt, sondern aus lauter Nüchternheit, Ausgewogenheit, Realismus das, was man so denkt, für die Realität zu halten, mit der man sich abfinden müsse. Der Konformist verzichtet auf ein eigenes Urteil, weil er sein will wie die anderen. Der Hyperkonformist erarbeitet sich ein eigenes, oft sehr kritisches Urteil und übersieht dabei, das die Kriterien dafür nicht von ihm stammen.
Ich für meinen Teil ziehe es jedenfalls nach wie vor vor, mir meine Meinung selbst zu bilden und mich dabei in Bejahung und Verneinung in der Regel weder — um zwei Pole zu benennen — an der „Bild-Zeitung“/„Kronenzeitung“ noch an der „FAZ“/„Presse“, weder am Rauschen des Internets noch an den Einseitigkeiten von (vermeintlichen) Fachleuten zu orientieren. Dass ich in der Wahl meiner Argumente oft intuitiv verfahre, spricht nicht gegen die Resultate, deren Wert sich an den Reaktionen erweist. Wenn ich an die Grenzen des Verständnisses gestoßen bin, habe ich mein Ziel erreicht. Dort, wo man mir nicht mehr zustimmen kann, sitzt nicht unbedingt mein Irrtum oder meine Täuschung (obwohl ich auch das keineswegs ausschließe), sondern meist das Vorurteil oder Ressentiment der anderen.
Man spricht gern von Medienkompetenz, aber das klingt mir zu technisch. Ich spräche lieber von poetischer Phänomenologie oder intuitiver Mytho-Analyse. Die Erfahrung scheint mir recht zu geben. Denn ich kenne manchen, der Detailwissen um Detailwissen in der oder jener Sache anhäuft, darüber aber das Wesentliche übersieht und mit seinem Urteil nur zu dem gelangt, was ohnehin alle sagen. Mir genügt oft ein — und hier eben setzt das weder zu erklärende noch zu rechtfertigende Mythisch-Poetische ein — charakteristisches Detail, ein scharfer Blick auf Kontext und Hintergrund, um zu einer Beurteilung zu gelangen, die von der durch den Hauptstrom abweicht. Nicht aus Originalitätssüchtelei abweiche ich geradezu gewohnheitsmäßig vom Gewöhnlichen ab, sondern wiederum aus Erfahrung, nämlich der, dass das, was alle Welt so denkt, nicht das zu sein pflegt, was den Kern der Sache trifft. Woraus umgekehrt nicht folgt, jeder Unsinn, sei er nur abseitig genug, sei unfehlbar wahr.

Was ich hier über mein Verhältnis zu tagesaktuellen Diskussionen darzustellen bemüht war, gilt übrigens selbstverständlich auch für philosophische Auseinandersetzungen. Da mache ich im Grunde nicht viel Unterschied. Es ist, wie es ist: Ich erfasse die Wirklichkeit oder das, was ich für sie halte, eher in Emblemen und Chiffren, weniger in abstrakten Begriffen. (Deren so reibungslosem Funktionieren in den Denkmschinen berühmter Philosophen ich stets mit Unbehagen und Unverständnis zusehe.)
Vielleicht aber kann ich das, was ich hier sagen wollte, gerade darum nicht besser sagen, als ich es versucht habe, weil es den Horizont meines Denkens ausmacht. Ich gelange darum nicht weiter als zum Anspruch auf argumentative Intuition und intuitive Argumentation. Überprüfbar sind die Ergebnisse solchen Bemühens erst in der Diskussion, im Dialog, denn niemand kann jenseits der Grenzen seines Denkens denken. Aber man kann sich von anderen sagen lassen, was sie denken, dass man denkt.

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