Sonntag, 13. März 2011

Invocabit

Die grundlegende Bedürftigkeit des Menschen ist nicht zu leugnen. Er muss haben, um sein zu können, und er muss bekommen und behalten, um am Leben zu bleiben. Auch darum sind Menschen aufeinander verwiesen. Doch dem gedeihlichen Zusammenwirken sind Grenzen gesetzt, denn statt dass alle für jeden einzelnen sorgen, kümmert sich fast jeder vor allem um das, was er für das Seine hält. Was du hast, habe ich nicht, denkt man, und was ich habe, hast du nicht. Deine Bedürfnisse sind also die Freinde meiner Bedürfnisse.
An den Grenzen gemeinsamer und wechselseitiger Versorgung ist allerdings nichts „natürlich“. So wenig wie meine Freiheit dort aufhört, wo deine beginnt — weil vielmehr die Freiheit des einen die Freiheit des anderen ermöglicht —, so wenig schränken dein Bedarf und deine Bedürfnisse meinen Bedarf und meine Bedürfnisse prinzipiell ein. Zusammenarbeit wäre hier allemal fruchtbringender als Ressourcen vernichtendes Gegeneinander.
Die modernen Herrschaftstechniken, ja vielleicht Herrschaftstechniken überhaupt, beruhen darauf, die Bedürftigkeit der einen gegen die der anderen auszuspielen. Die Gesellschaft wird als so strukturiert gedacht, dass die einen die anderen in ihrer Bedarfsdeckung und Bedürfnisbefriedigung bedrohen, woraufhin dann die Lösung allein in der Anerkennung einer übergeordneten Macht bestehen soll, die alle in Schach hält. Es geht uns gut, es könnte uns schlechter gehen, also soll alles bleiben, wie es ist. Das ist der Trick.
Man muss nun aber sehr vielen etwas vorenthalten, um ganz wenigen sehr viel zu verschaffen. Und um vielen etwas vorzuenthalten, muss man einige gut versorgen. Das gilt auch in globaler Dimension. Es darf freilich nicht so sein, dass die einen nichts und die anderen alles haben, zumindest nicht nebeneinander, denn zu große sichtbare Unterschiede drohen zu gewaltsamem Ausgleich zu führen. Also muss einerseits für ein kompliziertes Gegeneinander, andererseits für Ablenkung und Zerstreuung gesorgt werden. Abhängigkeit, Komplizenschaft, Amüsement und Verdblödung regieren die Welt.
Was dagegen zu tun wäre, ist offensichtlich: den Verblödungszusammenhang durchbrechen, den schalen Spaß verderben, die aktive und passive Konformität aufkündigen und sich von angeblichen Sachzwängen und vermeintlichen Notwendigkeiten emanzipieren. Kurzum: sich um das Wesentliche kümmern. 
Bloß wie? Wenn unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen materielle Unabhängigkeit nicht wirklich erreichbar scheint, so könnte doch immerhin mit geistiger Unabhängigkeit begonnen werden. Bedürftigkeit mag Voraussetzung sein, aber das macht sie nicht unreflektierbar. Bedürfniskritik wäre also ein guter Anfang. Was brauche ich wirklich? Was habe ich aus falschen Gründen? Warum will ich, was ich will? Wer will das?
Der Mensch ist kein Tier, er ist dem, was man für seine Instinkte halten möchte, nicht widerstandslos ausgeliefert. Er kann, aber er muss nicht. Seit Urzeiten ist darum der bewusste Verzicht gerade auf das, was unabdingbar scheint — Nahrung etwa —, den Menschen wesentlich, um sich dem Alltäglichen, Gewöhnlichen, Vorherrschenden zu entziehen und ihre Freiheit zurückzugewinnen. Der moderne Mensch scheint das vergessen zu haben. Die vorösterliche Fastenzeit wäre eine gute Gelegenheit, es ihm wieder in Erinnerung zu rufen.

Auch die Ereignisse in Japan können gerade in dieser Hinsicht zu denken geben. Es ist ja der maßlose „Energiehunger“ des modernen Wirtschaftens, der in den Aberglauben der verlustlosen Beherrscharkeit der Nukleartechnologie hineingetrieben hat — falls diesen Glauben wirklich jemals jemand hatte und ihn nicht nur Interessierte anderen aufzuerlegen versuchen. Gewiss sind Erdbeben und Flutwellen unverfügbare äußere Einwirkungen, doch so, wie der Mensch lebt, so wird er auch von den Naturgewalten erreicht. Schlagartig kann alles wegbrechen, woran man eben noch sein Herz gehängt hatte, und so erschreckend viele sind jetzt schon froh, wenn sie halbwegs davon gekommen sind und ein Dach über dem Kopf, ausreichend Nahrung, trockene Kleidung und dringend benötigte Medikamente haben. Wenn es Situationen gibt, in denen der kostbarste Besitz schon eine Decke ist, warum glaubt der Mensch dann eigentlich sonst sehr oft, so vieler irdische Güter zu bedürfen?

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