Sonntag, 20. März 2011

Ordnung und Werte

Fast hätte man schon vergessen können, dass die Republik sich dieses kostspielige Dekorationspöstchen überhaupt leistet, so wenig ist das bundesdeutsche Staatsoberhaupt in letzter Zeit in der breiten Öffentlichkeit aufgefallen. Einige Monate ist es nun schon her, dass Christian Wulff mit dem Satz, der Islam gehöre zu Deutschland, für Schlagzeilen und so etwas Ähnliches wie eine Debatte sorgte. Dem Islam bzw. der deutschen Besessenheit von diesem Thema verdankt Wulff es nun auch, dass ein paar Sätze von ihm wieder als Agenturmeldungen durch die Medien huschen. Dabei war es in dem Interview, das am 17. März in der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ erschien, nur am Rande um die Jünger des Propheten gegangen, vielmehr hatte sich Wulff zu seinem eigentlichen Lieblingsthema geäußert: Osnabrück. Doch dann kommt die Rede auch auf das Zentrum für Islamstudien an der Osnabrücker Universität, und der Bundespräsident macht in diesem Zusammenhang die Bemerkung: „Die Toleranz und Offenheit unserer Gesellschaft erfordern im Gegenzug aber auch die Bereitschaft der Muslime, unsere Werte, unsere Ordnung anzuerkennen und zu verteidigen. Es braucht einen aufgeklärten Islam, der die Trennung von Kirche und Staat anerkennt.“
Dazu kann man einiges anmerken. Zunächst: Muslime gehören keiner Kirche an, von der „Trennung von Kirche und Staat“ wären sie also nur indirekt betroffen. Aber vermutlich meint Wulff ohnehin allgemein „Trennung von Religion und Staat“. Dieses Ideologem ist ebenso beliebt wie verlogen. In Wahrheit ist damit ja gar nicht Trennung gemeint, sondern die Unterordnung des Religiösen unter das Staatliche. Etwas, was seinem Wesen nach gar nicht bloße Privatsache sein kann, wird als solche beiseitedefiniert und dem Weltlichen nachgeordnet. Der Staat gibt vor, was Religion darf und was nicht. Im Zweifelsfall gelten seine Normen, nicht die der Religionen.
Gewiss, das ist „aufgeklärt“, nämlich im Einklang mit den Vorurteilen des Säkularismus. Es ist aber auch, wie gesagt, verlogen. Befürwortete nämlich zum Beispiel Wulff wirklich eine Trennung von Religion und Staat, dann dürfte er sich als Bundespräsident, also als Staatsorgan, gar nicht zu etwas Religions- und nicht Staatsbezogenem, also auch nicht zum Islam äußern und ihm vorschreiben wollen, er habe aufgeklärt zu sein. So wenig wie der Islam in die Politik dürfte sich dann die Politik in den Islam einmischen. Ob eine Religion „aufgeklärt“ ist oder nicht, mag der Staat anhand von politisch oder juristischen Kriterien feststellen wollen dürfen, aber ihre Theologie darf er ihr nicht vorschreiben wollen. Jedenfalls nicht, wenn es ihm mit der geforderten „Trennung“ ernst ist.
Nicht besser steht es um Wulffs Forderung nach einer „Bereitschaft der Muslime, unsere Werte, unsere Ordnung anzuerkennen und zu verteidigen“. Von welcher Ordnung spricht der gute Mann? Vermutlich die deutsche Rechtsordnung vom Grundgesetz abwärts. Diese gilt jedoch, dem staatlichen Verständnis nach, so oder so, ob sie sie nun anerkannt wird oder nicht, und ist für alle gleichermaßen verbindlich. Welchen Zweck hätte da eine „Anerkennung“ durch Muslime? Warum sollen diese eigens anerkennen müssen, was alle anderen stillschweigend hinnehmen dürfen? Ist die deutsche Rechtsordnung etwa etwas im Kern Nicht-Islamisches, gar Anti-Islamisches, sodass ihre „Anerkennung“ im Grunde eine Unterwerfung und ein Abschwören bedeuten soll: Wir sind insoweit nur Muslime, wie der deutsche Staat es uns erlaubt.
Anerkennen und verteidigen: Worin soll diese Verteidigung bestehen? Der Staat fordert die Einhaltung der Rechtsordnung und erzwingt sie im Zweifelsfalle, er verteidigt sie gegen Missachtung und besitzt dabei das Gewaltmonopol. Was hätten die Muslime in Deutschland, von den viele gar keine deutschen Staatsbürger sind, da zu verteidigen? Sollen sie Lobeshymnen singen auf das Grundgesetz und seine tollen Menschen- und Bürgerrechte? Dann muss man sie auch uneingeschränkt man diesen teilhaben lassen — und sie nicht, wie es nun einmal deutsche Realität ist, als Nichtbürger und Menschen zweiter Klasse behandelt.
Unsere Ordnung und unsere Werte. Das mit der Ordnung mag noch verständlich sein. Aber welche „Werte“ meint Wulff?
Welche Werte gelten denn in Deutschland, die anderswo so nicht gelten? Was macht Deutschland zu etwas Besonderem? Dass jedes sechste Kind in Armut lebt? Dass man weltweit der drittgrößte Waffenexporteur ist? Dass das ästhetische Ideal der Mädchen das „model“ (auf Deutsch: das magersüchtige Flittchen) ist? Dass die meistgelesene Zeitung auch die verdummendste ist? Dass hierzulande die Zahl der christlichen Gottesdienstbesucher unter der Einschaltquote von „Wetten dass …?“ liegt? Dass das Nationalgericht die Currywurst und Pommes Schranke ist? Dass usw. usf.
Kurzum, ist denn Deutschland, so wie es ist, wirklich so großartig, dass alle, die hierherkommen, sich nichts besseres wünschen können, als ganz schnell so zu werden, wie „die Deutschen“, nämlich die bisherigen, schon sind, und das für gut zu halten, was die für gut halten? Kann am deutschen Werte-Wesen wirklich der Islam genesen?
Oder meint Wullff nicht bloß deutsche, sondern ganz allgemein westliche „Werte“? Für die ja Deutschen, denen man 1945 den Nazismus erst herausprügeln musste, recht spät berufene Experten sind. In Deutschland hat man „Demokratie“ und „Menschenrechte“, bei aller Liebe, nicht gerade erfunden. Allerdings bezeichnen diese beiden schönen Vokabeln in Wahrheit auch nicht die wirklichen „Werte“ des Westens, sondern vernebeln (von Ausnahmefällen abgesehen) bloß die tatsächlichen Interessen und Praktiken. Die westliche Wirklichkeit ist und war Ausbeutung und Umweltzerstörung, Verdummung und Entseelung. Der Westen, dass ist Kapitalismus, Imperialismus, Kolonialismus und militärisch-industrielle Globalisierung.
Das alles meint Wulff nicht. Er müsste es aber meinen, wenn er wirklich etwas sagen wollte. So bleibt seine Rede von Ordnung und Werten bloßes Gewäsch. Ich bin weder Moslem, noch habe ich vor, einer zu werden. Wäre ich einer und lebte in Deutschland, ich fände Wulffs Forderung nach „aufgeklärtem Islam“ eine Frechheit, solange es der deutsche Staat nicht schafft, sich ein „aufgeklärtes“ Staatsoberhapt zu geben, also eines, das nicht ideologische Versatzstücke nachplappert, sondern den Tatsachen ins Auge blickt. Es gibt zwar in jedem Land ein gewisses Recht auf gedeihliches Zusammenleben und darum eine gewisse Verpflichtung dazu. Eine Pflicht für in Deutschland Lebende, „deutsch“ zu werden, gibt es nicht. Und kein Recht des Staates, derlei einzufordern. Schon gar nicht im Namen von Toleranz und Offenheit, Ordnung und Werten.

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