Sonntag, 3. April 2011

Laetare

Wenn also der Tod — nicht so sehr der eigene, als vielmehr der des geliebten Anderen — alles zu entwerten, alles in einen Abgrund der Sinnlosigkeit zu reißen droht; und wenn andererseits gerade aus der existenziell erfahrenen Nichthinnehmbarkeit des endgültigen Nichts die Notwendigkeit eines den Tod überwindenden und Leben garantierenden Erbarmens folgt — das freilich nicht zwingend bewiesen, sondern nur gehofft und geglaubt werden kann: Was heißt das dann für die eigene Lebensführung?
Zum einen können die irdischen Freuden und Leiden nicht ganz ernst genommen werden. Nicht, dass nicht wirklich gelitten und genossen, erfreut und betrauert werden könnte, aber Trauer und Freude, Genuss und Leid haben nicht das letzte Wort. Glaube und Hoffnung gegen darüber hinaus und haben Wesentlicheres zu sagen.
Zum anderen können im Gegenteil Freud und Leid, Trauern und Genießen, gerade weil sie unter dem Vorbehalt ihrer Endlichkeit und Nichtendgültigkeit stehen, ganz und gar ernst genommen, ganz und gar angenommen, ganz und gar erlebt werden, denn wer glaubt und hofft, das mit dem Kontigenten nicht alles vorbei ist, kann Freude und Genuss als Vorfreude und Vorgenuss erfahren, auf das, was vielleicht noch kommt.
Und all das Leid, das eigene und das fremde? Mir hat da immer eine Notiz Franz Kafkas zu denken gegeben: „Nur hier ist Leiden Leiden. Nicht so, als ob die, welche hier leiden, anderswo wegen dieses Leidens erhöht werden sollen, sondern so, dass das, was in dieser Welt leiden heißt, in einer andern Welt, unverändert und nur befreit von seinem Gegensatz, Seligkeit ist.“
Ich verstehe das so: In dieser Welt besteht ein notwendiger Gegensatz zwischen dem, was sein soll, und dem, was nicht sein soll. Leiden ist Erfahren dieses Gegensatzes. Wie sollte man denn auch nicht unter Unrecht, unter Missgeschick, unter Mangel leiden? Niemand soll hungern oder krank sein, niemand soll bestohlen, betrogen und belogen werden, niemand soll entwürdigt, entrechtet, verfolgt, gequält, verletzt, getötet werden, niemand soll von Bildung und Unterhaltung ausgeschlossen werden — aber all das passiert und zwar, im Wesentlichen deshalb, weil Menschen es Menschen antun. Wie aber sollte man nicht darunter leiden, wenn es einem widerfährt? Widerfährt einem aber nicht das, was nicht sein soll, sondern das, was sein soll und wie es sein soll, dann ist das — vom „Gegensatz befreit“ — letztlich Seligkeit.
Streng genommen ist also nicht das Leiden das Üble, das nicht sein soll, sondern das, woran gelitten wird, soll nicht sein. Schlechtes soll nicht sein; was nicht sein soll, aber erfahren wird, ist schlecht. Leiden als Erfahrung dessen, was nicht sein soll, ist das Gegenstück zur Freude, die die Erfahrung dessen ist, was sein soll. Ja, für den, der an das Gute, Wahre und Schöne glaubt und seine Unvergänglichkeit erhofft, ist Leiden eigentlich Freude, nur eben noch nicht befreit vom Gegensatz, sondern in diesen eingespannt und ihm verfallen. Leiden ist Leiden am falschen Endlichen. Freude ist Freude am ins Unendliche reichenden Endlichen. Denn was je sein sollte, wird immer gewesen sein. Und was nie sein sollte, wird nie gewesen sein.

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