Donnerstag, 4. August 2011

Ungesundes Volksempfinden

Ich verstehe nicht, warum überhaupt darüber berichtet wird. Noch dazu so viel und so ausführlich. Was ist schon groß passiert? Jemand bekommt von einem Gericht eine Entschädigung zugesprochen, weil eine Behörde seine Rechte verletzt hat. In diesem Fall das höchste Recht überhaupt, die durch Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes für unverletzlich erklärte Menschenwürde. Eine solche Entscheidung ist ein ganz normaler Vorgang und vermutlich nicht besonders selten. Aber anscheinen halten es viele in Deutschland für berichtenswert, dass der Entschädigte der verurteilte Entführer und Mörder des damals elfjährigen Jakob von Metzler ist.
Teil der Berichterstattung ist implizit oder explizit die Frage: Ja, darf denn das wahr sein? Ein Mörder bekommt eine Entschädigung, weil ihm Folter angedroht wurde? Das ist doch nicht gerecht!
Allein schon, über diese gerichtliche Entscheidung zu beichten, über so viele andere aber nicht, ist im Grunde ein Aufruf zur Mobilisierung des gesunden Volksempfindens. Und brav und reflexartig reagieren auch die einschlägigen Politiker und fordern, dass so etwas nicht vorkommen dürfe. Ein solches Urteil verstehe niemand. Das Rechtsempfinden der Bürgerinnen und Bürger werde verletzt. Manche sagen sogar: Das Opferrecht müsse geändert werden, einem Täter zugesprochene Entschädigungen müssten an die Opfer gehen. (In dem zur Rede stehenden Fall geht der sehr bescheidene Geldbetrag übrigens von der Staatskasse an die Staatskasse, denn der Verurteilte hat bei der Justiz hohe Schulden.) Kurzum, die Bereitschaft zu populistischer Anlassgesetzgebung ist offenbar jederzeit abrufbar.
Man kann die Berichterstattung und die Reaktionen aber auch als Test von Deutschlands Rechtsstaatlichkeit nehmen. Nach seinen Gesetzen und dem Funktionieren seiner Institutionen ist die BRD (im Rahmen des menschlichen Möglichen und des nach Maßgabe der unzureichenden finanziellen Ausstattung Leistbaren) in höchstem Maße ein Rechtsstaat. Gemäß dem Rechtsbewusstsein der Mehrheit seiner Bevölkerung allerdings nicht.
Wer es für Unrecht hält, dass ein mutmaßlicher und sogar ein verurteilter Mörder dieselbe unverletzliche Würde hat wie ein Unbescholtener und darum auch in allem, was nicht mit seiner Verurteilung zu tun hat, auch so behandelt werden muss, hat ein wichtiges rechtsstaatliches Prinzip nicht akzeptiert. Für die Mehrheit der Menschen in Deutschland, so behaupte ich, ist das Grundgesetz und sind die diversen Menschenrechtserklärungen allenfalls bedrucktes Papier. Im gefühlten Bedarfsfall liegt ihnen der Ruf „Rübe ab!“ näher als der Gedanke, dass auch ein Übeltäter Rechte hat. Leider werden sie in dieser Haltung von haltungslosen Politikern unterstützt — und von unverantwortlichen Journalisten, die lieber brandgefährliche Ressentiments aufrufen als auf eine sensationslüsterne Schlagzeile zu verzichten.

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