Sonntag, 16. Oktober 2011

Liberty Plaza

Wenn’s ihnen Spaß macht … Sollen sie doch gegen Bankenmacht und Profigier die Wallstreet (oder zumindest den Zuccotti Park, der früher wohl mal Liberty Plaza Park hieß) okkupieren, sollen sie Transparente schwingen, Sprechchöre trällern und Reden, viele Reden von sich geben — und sich nicht zuletzt im Internet tummeln. Sollen sich doch Hunderte, Tausende, Zehntausende überall in den Metropolen der westlichen Welt ihnen anschließen und ihr eigenes Ding machen. Warum nicht? Kapitalismuskritik ist gerade in. Bald ist sie es wieder nicht mehr. Carpe diem!
Manches, was manche von den aktuellen Protestierern vorbringen, ist gar nicht so unsympathisch. Anderes wiederum ist Unsinn. Da passt inhaltlich Vieles nicht zusammen, aber stilistisch bildet es doch ein kohärentes Phänomen. Mit revolutionärem Chic. Was viele seit langem gesagt haben, haben spätestens jetzt auch viel Jüngere entdeckt. Die Übel sind ja auch wirklich nicht zu übersehen, wenn man erstmal hinschaut und nachdenkt.
Das Bürgertum ist verunsichert. Das Versprechen der Oberen, den Mittleren durch Ausbeutung der Unteren Wohlstand zu sichern, scheint vorübergehend ein wenig an Überzeugungskraft einzubüßen. Dass die Reichen immer reicher werden und die Armen ärmer, diese raison d’être der „marktwirtschaftlich“ orientierten Gesellschaften, funktioniert zwar noch, aber es gibt für den Mittelstand Zweifel, ob er sich in seiner Masse wirklich nach oben bewegt oder nicht doch auch nach unten. Man kann’s mit der Ausbeutung auch übertreiben. Da hilft dann selbst die Zerstreuung mittels Konsumspielsachen nicht mehr völlig über alles hinweg.
Aber soll sich wirklich etwas ändern? Im Grundsätzlichen?
Die Leutchen von Occupy Wallstreet haben Recht. Sie gehören zu den 99 Prozent, die bleiben, wenn man ein Prozent Superreiche abzieht. Aber das verweist auf ein viel grundsätzliches Problem. Der Kapitalismus kommt, wie jedes Herrschaftssystem, von unten. Damit ein solches System funktioniert, braucht es nicht nur die, die am meisten profitieren und die den unmittelbarsten Einfluss ausüben. Es braucht vor allem die mehr oder minder willige Masse der Mitmacher. Auf jeden, der etwas anordnet, kommen Hunderte, Tausende, Millionen, die gehorchen.
Gewiss, man hat keine Wahl oder scheint keine zu haben. Man ist a priori Teil des Systems. Das ändert aber nichts daran, dass diese systemimmanente Alternativlosigkeit nur deshalb funktioniert, weil sie performiert wird. Anders gesagt, die Leute erzeugen den Zwang, dem sie sich unterwerfen, selbst.
Kapitalismus ist das Resultat eine demokratischen Prozesses. Er entspricht den Wünschen der Mehrheit, mögen diese Wünsche auch noch so manipuliert sein. Diesem Wahnsinn nun ausgerechnet „Demokratie“ (sei sie liquide oder sonstwie aggregiert) entgegensetzen zu wollen, ist nur neuer Wahn. Um es zum fantastillionsten Mal zu sagen: Demokratie bedeutet nicht, dass das Volk regiert, sondern dass die Bevölkerung dem Regiertwerden zustimmt (und dies in institutionalisierter Form zum Ausdruck bringen kann). Demokratie ist nicht identisch mit Rechtsstaat, die Anerkennung von Bürger- und vor allem Menschenrechten ist nicht an demokratische Strukturen gebunden.
Die Vorstellung, alles würde gut, wenn nur alles immer von den Leuten selber bestimmt würde, ist bizarr. Man nenne mich selbstgerecht und überheblich, aber ich habe kein Zutrauen zum Verstand der Masse meiner Mitmenschen. Warum sollten dieselben Leute, die in den Beziehungen untereinander, im Weltverhältnis und im Selbstverständnis so erschreckend selten Intelligenz, Geschmack oder Verantwortung zeigen, sich mit einem Mal ganz anders verhalten, warum sollten dieselben Leute, die sich, wie ihr Konsumverhalten und ihr Räsonieren beweist, jeden Unfug aufschwatzen und jeden Blödsinn einreden lassen, plötzlich in ihrer Mehrheit richtige politische Entscheidungen treffen können?
Oder geht es gar nicht um richtig und falsch? Geht es bloß darum, dass etwas „demokratisch“ ist? In einer Welt, in der ständig über alles und jedes abgestimmt würde und die Mehrheit entscheidet, was zu tun ist, möchte ich nun wirklich nicht leben. Das wäre der reinste Terror.
Es ist mehr als naiv, es ist gefährlich paranoid, anzunehmen, man müsse nur die Herrschaftsstrukturen suspendieren und die von jedem äußeren Zwang befreiten Subjekte würden plötzlich souverän. Denn die inneren Zwänge, also das, als was die Subjekte sich geformt haben und sich formen lassen haben, bestehen ja weiter fort. Der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit ist ein Programm, das leider nicht funktioniert, weil die Unmündigkeit nicht darin besteht, sich des eigen Verstandes nicht ohne Leitung eines anderen bedienen zu können, sondern weil der real existierende Verstand selbst nicht vom Himmel gefallen, sondern ein Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Es gälte demnach erst, diese Verhältnisse zu stören und den Verstand umzuformen — also anders zu leben und zu denken —, um mündig zu werden.
Aber wer schafft das schon? Ist die symbolische Besetzung der Wallstreet ein Schritt dorthin? Wohl kaum. Dieses Gesellschaftssystem hat kein finsteres Herz, kein alles steuerndes Superhirn, das man nur auszuschalten oder umzufunktionieren braucht, um alles gut werden zu lassen. Gewiss gibt es Machtzentren, aber im Wesentlichen funktioniert der Kapitalismus, wie jedes stabile Herrschaftssystem, dezentral, plural, heterogen und mit Widersprüchen. Krisen sind sein Lebenselement. Weshalb auch das mehr oder minder kritische Denken, wie es sich an der „Liberty Plaza“ kristallisiert, eher ein Beitrag zur permanenten Evolution sein dürfte, der den Strukturen Impulse verleiht, diese zur ihrem ständigem Umbau benötigen. Eine breite gesellschaftliche Dynamik, die morgen oder übermorgen, den Kapitalismus hinwegfegt (und durch welche andere Wirtschaftsordnung ersetzt?) kann ich jedenfalls nicht erkennen.
Trotzdem: Wenn’s ihnen Spaß macht … Man sieht gern zu, man macht gern mit. Es wird die Welt nicht verbessern, aber besser als Nichtstun ist es allemal.

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