Freitag, 18. Mai 2012

Zwei neue Wörter

An einem einzigen Tag gleich zwei neue Wörter zu lernen, die sich fürs Denken und Schreiben als zukunftsfähig erweisen könnten, ist ein besonderer Glücksfall. Mir ist er heute passiert. Ich hatte ein paar antiquarische Taschenbücher gekauft und stieß schon beim ersten Durchblättern auf „weltquer“ (Stefan Andres) und „Restdeutsche“ (Horst Krüger).
„Weltquer“ benennt, so scheint mir, auf eine nicht wertende Weise, was sonst sonderlingshaft, kauzig, lebensuntüchtig genannt werden müsste. Es verweist auf einen Zustand, ein Verhältnis, ohne daraus eine Folgerung in die eine oder andere Richtung  anzudeuten. Wer weltquer ist, der ist weder notwendig ungenügend noch unbedingt kritisch. Er und die Welt stehen schlicht quer zueinander, aber wer dabei Recht hat und wer im Unrecht ist, ist nicht gesagt. Mir gefällt dieses Wort sehr und selbstverständlich will ich es von nun an nicht zuletzt zur Selbstbeschreibung verwenden.
Als „Restdeutsche“ bezeichnet Krüger, wenn ich es richtig verstehe, das, was übrig bleibt, wenn man von den Deutschen die Österreicher abzieht. Das ist gut und richtig beobachtet. Der deutsche Weg zum Nationalstaat war, anders als etwa der französische, spanische, britische usw., nicht einer der Expansion (von der innerdeutschen Aufblähung Preußens abgesehen), sondern der Schrumpfung. Vom Abfall der Niederlande und dem Ausscheiden der schweizerischen Eidgenossen (1648) bis zur „kleindeutschen Lösung“ des Bismarck-Reiches (1871) über das mörderische Zwischenspiel der großdeutschen Verirrung (1938-45) dann schließlich zum „Verlust“ Ostpreußens, Schlesiens und Pommerns (samt Untergang der jeweiligen Dialekte): ein einziges großes Wenigerwerden. (Selbst die „Wiedervereinigung“ wird man schwerlich als Gewinn verbuchen können. Am Ende der jahrzehntelang als charakteristisch geltenden „deutschen Teilung“ wurde die BRD zwar um fünf Bundesländer vermehrt, aber ein ganzer Staat, die unglückliche DDR, verschwand.)
Man sollte diesen langen historischen Prozess der Verminderung nicht einseitig als einen der Herauskristallisierung eines „eigentlichen Deutschland“, das nun eben mit der realexistierenden BRD identisch sei, verstehen, sondern vielmehr ganz offen als Geschichte eines Abbauens, Verlierens, Weglassens ansprechen, die im jeweiligen Endeffekt klein und provinziell macht — nämlich nicht nur die Weggelassenen (also etwa die Schweizer und Österreicher), sondern auch die Weglassenden. Die eben nur noch ein „Rest“ von dem sind, was einmal deutsch war. — Krüger verwendet das Wort übrigens, als er von Wien, das im Zweiten Weltkrieg kaum bombardiert wurde, nach Frankfurt am Main zurückkehrt; ein Wort wie „restdeutsch“ kann also wohl auch an die die ungeheuren Verluste nicht nur an Menschenleben, sondern auch an materieller Tradition erinnern, die sich „die Deutschen“ (nicht zuletzt mit Hilfe der Alliierten) zufügten. Kaum eine deutsche Stadt sah ja 1945 noch so aus wie 1932.
Um nicht missverstanden zu werden: Von „Restdeutschen“, „Restdeutschland“ und „Restdeutsch“ (dies auch im Sinne dessen, was nach der Durchdenglischung noch bleibt) zu sprechen, hat für mich nichts mit großdeutschen oder überhaupt nationalen Phantasmen zu tun. Vielmehr kann so , meine ich, mit solch einem Wort sehr gut angedeutet werden, dass der Wille zum Nationalstaat immer etwas Destruktives hat, etwas Repressives und Marginalisierendes, wobei der deutschen Sonderweg eben historisch gesehen darin besteht, nicht (wie die Engländer die Schotten, Waliser und Iren oder die Kernfranzosen die Okzitaner, Bretonen, Basken usw., die Kastilier die Leoneser, Katalanen, Basken usw. usf.) die Ränder erobert und angepasst, sondern immer neue Ränder abgetrennt zu haben. (Allerdings lasse ich hier die „deutsche Ostsiedlung“, die sowohl Österreich als auch Brandenburg usw. begründete, ganz außer Acht; diese war sehr wohl erobernd und anpassend, wo nicht auslöschend.)
Erst vor zwei Jahren erfuhr ich, dass es in der Germanistik außerhalb des deutschen Sprachraumes, etwa in Italien, mitunter zwei verschiedene Fachbereiche gibt, einen, der für die deutschsprachige Literatur Deutschlands zuständig ist, und einen, die „Randgermanistik“ (germanistica marginale), wo man sich der deutschsprachigen Literatur außerhalb Deutschlands (Österreich, Schweiz, Rumänien usw. usf.) widmet. Für mich ergibt das fortan ein Begriffspaar: randdeutsch und restdeutsch.  Damit lässt sich arbeiten.

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