Montag, 24. September 2012

Milieu, Szene, Mord

Fernsehkritiken sind vermutlich auf Grund der redaktionsinternen Arbeitsteilung von den zu verfassen, die alles schon gesehen haben, denn nur wer alles kennt oder dies zumindest glaubt, verfügt über genügend Abgebrühtheit, um nicht mehr viel sehen zu müssen und trotzdem genau sagen zu können, was zu sehen war und wie es nunmehr zu beurteilen ist. Leider passieren gerade denen, die zu viel zu wissen glauben, sehr leicht sehr schwere Fehler, dann nämlich, wenn das, was tatsächlich gezeigt wird, nicht das ist, was sie zu sehen im Voraus erwartet haben. Im Zweifelsfall aber entscheidet sich der routinierte Fernsehkritiker eher für sein Vorurteil als für die Realität.
So ist es ebenso wenig verwunderlich wie unentschuldbar, dass gleich zwei Autoren zweier renommierter deutscher Tageszeitungen in ihren Kritiken der am 23. September 2012 zum ersten Mal gesendeten „Tatort“-Folge „Alter Ego“ (Drehbuch Jürgen Werner, Regie Thomas Jauch) zwei sehr ähnliche Schnitzer passieren. In der FAZ schreibt Jochen Hieber: „Es geht um Vorurteile gegenüber Homosexuellen, um die homophobe Flugblattkampagne einer fundamentalchristlichen Sekte und um einen Doppelmord in der Dortmunder Schwulenszene.“ („Er wird doch nicht den Sittich machen“, 23. 9. 2012) Und in der Süddeutschen Zeitung weiß Holger Gertz: „Der Fall, der aufzuklären ist, spielt sich im Hintergrund ab, oder im Untergrund, es geht um Morde im Dortmunder Schwulenmilieu.“ („Dosenkost“, 23. 9. 2012)
Nein, meine Herren, Sie irren. Die beiden Morde ereigneten sich gerade ausdrücklich nicht in einem „Schwulenmilieu“ (was ist das eigentlich?) oder einer „Schwulenszene“ (dieselbe Frage). Sondern der Täter war ein Heterosexueller, einer, der alles mögliche, nur nicht schwul sein wollte, der es so sehr nicht wollte, dass er zwei Männer umbrachte: Den einen, weil er sich von ihm verführt glaubte, denn anderen, weil der davon wusste. Mit den Morden wollte der Mörder die bloße Möglichkeit, er könnte Sex mit einem Mann haben wollen, auslöschen.
Milieu? Szene? Das trist-traute Heim, in dem der Täter, mit Weib und Kind und strengem Vater lebt, und sein mäßig hippes Unternehmerbüro ist so ziemlich das Gegenteil eines Milieus oder einer Szene, die man aus irgendeinem Grund als „schwul“ klassifizieren möchte. Aber in dem Fernsehkrimi kommen zwei tote Schwule vor und getötet hat sie einer, der nicht schwul sein will, also handelt es sich, so die Logik der TV-Kritiker von FAZ und SZ, um einen Mord unter Schwulen.
Gewiss, manche würden küchenpsychologisch den Täter zu einem „eigentlich“ Schwulen erklären, zu jemandem, der zwar äußerlich als Heterosexueller gelebt hat, aber innerlich immer schon homosexuell war. Diese Vorstellung eines Begehrens, dass die innerste Wahrheit über ein Person zum Ausdruck bringt, ist unter Heteros und Homos ja bedauerlicherweise weit verbreitet.
So fragt auch Christian Scheuß von queer.de in einem Interview mit Stefan Konarske, der einen der Dortmunder Kommissare spielt: „Die Tatort-Folge) ‘Alter ego’ beschäftigt sich so intensiv wie kaum ein Tatort zuvor mit den Auswirkungen von Homophobie und den Folgen einer versteckten homosexuellen Orientierung. War es ihrer Meinung nach eine gute Idee, die Ermittlungen in der schwulen Szene zu starten und nicht beispielsweise im ‘Taubenvatter-Milieu’? Doch der Interviewte gibt darauf zur Antwort: „Es ging in der Folge eher um unterdrückte Gefühle und dadurch fehlgeleitete Obsessionen und was das mit Menschen machen kann. Denken Sie, dass viele ‘Taubenvattern’ ihre Vogel-Passion unterdrücken müssen?“ Statt also den Täter auf seine „versteckte Orientierung“ festzulegen, wie es Scheuß tut, weitet Konarske den Blickwinkel und vermeidet so eine oberflächliche Kategorisierung der Figuren. Denn wie kann Scheuß wissen, dass die Figur des Mörders ihre „homosexuelle Orientierung versteckt“? Wer sagt, was die wahre, eigentliche und entscheidende „Orientierung“ eines Menschen ist und was bloß ein unauslebbares, weil verbotenes Verlangen? Was ist das wahre Selbst: Das, was man tut, oder das, wovon man nichts wissen will?
Heterosexualität, behaupte ich, beruht immer auf der Unterdrückung von Homosexualität. Hier hat diese Unterdrückung letztlich mörderische Form angenommen. Sonst gäbe es ja auch keinen Fall. Im wirklichen Leben aber gehen heterosexuelle Lebensentwürfe nicht immer so tödlich aus, was andererseits auch nicht heißt, dass sie immer glücklich enden. Im Grunde liefert der „Tatort“ nur eine zeitgenössisch upgedatetete Variante des uralten, in film und Literatur unzählige Male durchgespielten Modells der Zusammengehörigkeit von Männerliebe und Tod. Der Schwule als der, der sterben muss oder töten, wird hier figuriert als der, der töten muss. weil er nicht als Schwuler leben darf.
Wie auch immer. Mit Mord im Schwulenmilieu oder in der Schwulenszene hat das alles nichts zu tun. Zwei schwule Leichen, ein irgendwie schwuler oder doch nicht schwuler Mörder, das war’s gewesen — zu einer Szene oder einem Milieu aber gehört doch wohl noch ein bisschen mehr, oder?
Immerhin spielen einige Filmminuten in einer schwulen Bar. Eine gute Gelegenheit, die heterosexuelle Matrix einmal mehr zu bekräftigen. Das hatte ja schon die Eingangssequenz getan. als das Mordgeschehen — Mann mordet Mann — mit Bildern eines heterosexuellen Beischlafs — Mann besteigt Frau — durchsetzt wurde. Nun aber kommt man, um die Überlegenheit des Hetero-Seins zu zeigen, auch mal ganz ohne Frauen aus, und die Herren Kommissare erhalten Gelegenheit, sich als richtige Männer unter all den Schwulen zu beweisen. Sie tun das auf die bewehrte Art. Kein Klischee wird ausgelassen: Annäherungsversuche werden ruppig zurückgewiesen (denn selbstverständlich werden die beiden Männer, unwiderstehlich wie sie sind, sofort angebaggert; Schwule sind bekanntlich nicht wählerisch, was Alter und Aussehen betrifft) oder heuchlerisch erwidert, der Kellner wird erst angemacht, dann unter Druck gesetzt. Das hat man in einem gefühlten Dutzend von Jean-Paul-Belmondo-Filmen schon besser gesehen. Heteromänner können sich ja jederzeit als Schwule ausgeben, umgekehrt aber — man wird sehen, wohin derlei führt. Im Zweifelsfall kehren sie ohnehin den Macho heraus.
Letztlich aber gehen die richtigen Männer teils angewidert, teils unbeeindruck, jedenfalls aber unagetastet aus der ihnen so fremden Umgebung wieder hinaus ins nornale Leben. Und dann kommt’s dicke. Das Anti-Klischee schlägt zu: Fußballfans, die wenig bis kein Problem mit Schwulen haben und nur gemütlich „Rosettenlarm!“ grölen. Nun ja. Fiktion darf das.
Fazit: Kein Milieu, keine Szene, nirgends. Und in der Bar ist, soweit man sehen konnte, keiner gestorben. Wie Fernsehkritiker wie Gertz und Hiebe darauf kommen, etwas anderes gesehen zu haben, weiß man nicht.
Eine Richtigstellung wäre fällig. Denn die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und die „Süddeutsche Zeitung“ sind ja nun einmal nicht irgendwelche Provinzkäseblättchen, von denen man ohnehin nur Mist erwartet. Es sind Medien, die an vorderster Front der Meinungsbildung stehen und ihre Wort- und Begriffswahl hat Auswirkungen auf den öffentlichen Diskurs. Hier haben sie versagt. Hier wurde von ihren Autoren reflexartig reagiert und ohne Reflexion. Das Schlimme daran: Ganz beiläufig wurde dabei eine wichtige Pointe des Drehbuchs übersehen. Denn am Ende des „Tatorts“ ist es dann doch auch darum gegangen, dass die Ermittlungen zwar vorübergehend in, wie Gretz und Hieber sagen würden, „Schwulenszene“ und „Schwulenmilieu“ geführt wurden, der Täter aber keineswegs dort zu finden war, sondern im „Heterosexuellenmilieu“, in der „Heterosexuellenszene“. Die Herren Kritiker haben nicht hingeschaut, nicht zugehört und darum Wesentliches verpasst.

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