Dienstag, 30. Oktober 2012

Neonazi, schwul

Vermutlich würde jeder halbwegs vernünftige Mensch, zumindest nach einigem Nachdenken, dieser Selbstverständlichkeit zustimmen: Die sexuelle Orientierung einer Person lässt keine Rückschlüsse auf ihre politische Einstellung zu und ihre politische Einstellung keine auf die sexuelle Orientierung. So weit, so offensichtlich. Doch gibt es da wohl doch eine Ausnahme, zumindest wenn es nach der Meinung mancher Journalisten und anderer Öffentlichkeitsbearbeiter geht. Dann nämlich, wenn die betreffende Person schwul ist.
„Er ist homosexuell und wird Neonazi“, beginnen Maik Baumgärtner und Jörg Diehl ihren Artikel „Der Verirrte“ (Spiegel online, 20. Oktober 2012) über Carsten S., einen mutmaßlichen Unterstützer von Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe. Damit ist die Denkrichtung vorgegeben. Rechtsextremismus und Homosexualität sind die beiden Schlüsselmotive, um die herum eine biographische Erzählung gebaut wird. Eine Rekonstruktion nennen die Autoren das. Deren narrative Spannung speist sich aus dem schwierigen Verhältnis der beiden Motive, denn einerseits, das weiß man doch, schließen Schwulsein und Neonazisein einander aus, weil Nazis Schwule hassen, aber andererseits …
Hier soll nicht nacherzählt werden, was Baumgärtner und Diehl „rekonstruiert“ zu haben meinen oder tatsächlich haben. Mich interessiert Carsten S. gar nicht. Weder seine ostdeutsche Kindheit, noch seine Beteiligung an Dummheiten und Verbrechen, noch sein westdeutsches Leben danach. Mir geht es hier ausschließlich um die Art und Weise, wie homosexuelle Orientierung und rechtsextreme politische Einstellung von den rekonstruierenden Autoren aufeinander bezogen werden.
„(W)enn es stimmt, was er den Ermittlungsbehörden erzählt hat, dann wird er Neonazi wegen eines Jungen namens Rico [redaktionell geänderte Name]. Denn der ist ‘rechts’, wie man damals sagt, weshalb Carsten entsprechende Prospekte und Klamotten bestellt. Bald kann er auf Augenhöhe mit seinem Schwarm reden, und auch in der Berufsschule ist Carsten, ausgerechnet der scheue, blasse Carsten, den bisher alle irgendwie merkwürdig und linkisch fanden, plötzlich voll akzeptiert.“ So weit, so banal. Mir persönlich ist zumindest ein Fall bekannt, bei dem einer Marxist wurde, weil er ein Mädel rumkriegen wollte, das einer kommunistischen Jugendorganisation angehörte. Dass jemand die politische Präferenz des Objektes seines Begehrens imitiert, ja übernimmt, ist also, so nehme ich an, nichts Außergewöhnliches. Es aber halt doch ein Unterschied, ob man sich aus lauter aus Verliebtheit für Krötentunnel einsetzt oder für Judenvergasung bzw., man muss ja nicht gleich aufs Ganze gehen, für Hass auf Ausländer.
Und dann ist da noch ein kleiner Haken an der Geschichte. Man erfährt nicht, ob Carsten seinen „Rico“ denn nun je gekriegt hat. Vermutlich nicht. Aber das spielt, jedenfalls für die Geschichte, die Baumgärtner und Diehl erzählen, keine Rolle. Die hat nämlich eine andere Funktion: „Die Geschichte des Carsten S. erzählt einiges darüber, welchen Reiz Extremisten auf junge Männer ausüben. Wie verführerisch das Versprechen ist, endlich irgendwo dazuzugehören — selbst für die, die nach den Regeln der Szene eigentlich überhaupt nicht dazugehören dürften. Wie quälend zudem die Suche nach dem eigenen Weg sein kann und wie leicht andere einen davon abzubringen vermögen. Zusammenhalt, Freundschaft, Anerkennung — dafür ist mancher Suchende vieles zu tun bereit. Carsten S. ist es auch.“
Diese „Rekonstruktion“ steht übrigens in dem Artikel vor dem Absatz mit der Rico-Episode. Was also für sich genommen als banales Geschwafel daherkommt — alle jungen Männer, und nicht nur diese, wollen Anerkennung usw. usf. —, erhält nachträglich durch die Konkretisierung einen deutlichen Drall. Reiz, Verführung, Versprechen, Szene, quälende Suche: Ohne dass da etwas expliziert werden muss, evozieren solch Vokalbeln einen Zusammenhang von haltlosem Schwulsein und haltgebendem Naziwerden.
Mit keinem Wort sagen Baumgärtner und Diehl freilich, dass Carsten S. Neonazi wurde, weil er schwul war. Schon gar nicht, dass er es werden musste. Indem sie aber ihre Erzählung so verdichten, dass inhaltsarme Plattitüden („für Zusammenhalt, Freundschaft, Anerkennung ist mancher Suchende vieles zu tun bereit“) wie Erklärungen für einen konkreten Fall wirken können — vorausgesetzt, man vergisst vorübergehend, dass es auch rechtsextreme Frauen gibt und rechtsextreme heterosexuelle Männer —, biegen sie die offensichtlich Unvereinbarkeit („Nazi, obwohl schwul“) andeutungsweise in ein Begründungsverhältnis um: „Nazi, weil als schwuler junger Mann auf der quälenden Suche nach Zugehörigkeit vom Reiz der Extremisten verführt“.
Nun könnte man eine ganz ähnliche Geschichte vermutlich auch von einer jungen Frau erzählen, die ebenfalls aus erotischen Gründen und aus dem Bedürfnis nach Anschluss und Anerkennung in Neonazi-Kreisen verkehrt. Der Unterschied wäre mit absoluter Sicherheit, dass in solcher Erzählung die Erotik einfach als Erotik firmierte und keineswegs als Heteroerotik und dass das Spannungsverhältnis zwischen Unvereinbarkeit und Begründung wegfiele.
Im Fall von Carsten S. hingegen heißt es bei Baumgärtner und Diehl: „Von Homoerotik ist (…) in seinen Aussagen bei den Ermittlern oft die Rede, Politik habe ihn eigentlich nie sonderlich interessiert, erzählt S.“ Dazu passt ironischerweise, dass er, nachdem er sich aus der Neonazi-Szene zurückgezogen hat, in Düsseldorf Sozialpädagogik studiert und sich an seiner Hochschule im Schwulenreferat engagiert …

In der biographischen Rekonstruktion, die der Artikel darstellt, erfüllt das Schwulsein von Carsten S. eine doppelte narrative Funktion: Zum einen  führt sie zum Rechtextremismus hin, zum anderen davon weg. „Er grübelt und sinniert und zieht sich allmählich zurück aus der Szene. Es ist ein langsamer Prozess, der Zeit braucht, doch Carsten S. ist nun klar, dass er in Neonazi-Kreisen seine Sexualität auf ewig wird verleugnen müssen. Er aber will kein halber Mensch mehr sein und zieht irgendwann möglichst weit weg (…)“
Einmal mehr ist die Homosexualität, etwas, was nicht nur zu erklären ist (womit sich die „Rekonstruktion“. die keine Psycho-Analyse ist, erfreulicherweise nicht beschäftigt), sondern vor allem auch etwas, was erklärt. „Homoerotik“, so wird suggeriert, macht für Neonazismus empfänglich, weil aber Schwulsein und Nazisein in der Szene als weitgehend unvereinbar gelten, ist Homosexualität auch wiederum ein Ausschlussgrund.
Baumgärtner und Diehl halten also die für ihre Erzählung so wichtige Spannung zwischen homosexueller Orientierung und rechtsextremer politischer Einstellung aufrecht und lösen sie nicht dahingehend einfach auf, dass sie klipp und klar sagen, dass die eine die andere zu Ursache hätte. Aber allein, indem sie das Homosexuellsein von Carsten S. zum auf politische Präferenzen beziehbaren Thema machen (wie dieser es anscheinend auch selbst tut), behandeln sie Schwulsein als etwas, was eher mit Neonazismus zu tun hat als andere sexuelle Orientierungen.Denn niemand spricht je davon, dass beispielsweise Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, die untereinander wohl irgendwelche unappetitlichen sexuellen Beziehungen unterhielten, heterosexuell waren, und schon gar nicht wird auch nur angedeutet, dass es ihre Heterosexualität war, die Rechtextremismus, Raub und Mord für sie attraktiv werden ließ. Ist ein (ehemaliger) Neonazi jedoch schwul, muss sein Begehren als (zumindest nachdrücklich angedeutete) Erklärungsmöglichkeit herhalten. Zwar ist es in jeder erdenklichen Hinsicht eigentlich völlig wurscht, ob einer Nazi wird, weil er für einen Rico schwärmt oder weil er mal (wie so viele) über eine Beate drüberrutschen will, doch nur ersteres scheint interessant genug für eine journalistische „Rekonstruktion“. Warum das so ist, das müsste vielleicht mal jemand gründlich rekonstruieren …

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