Sonntag, 15. September 2013

„Du sollst nicht wählen“ (2)

Meine Kritik an dem, was gemeinhin als Demokratie bezeichnet wird, richtet sich keineswegs nur darauf, dass es mir nicht genug ist, wenn man unter „demokratisch“ bloß Mehrheitsentscheide, und nicht viel grundsätzlicher gleiches Mitbestimmungsrecht von jedermann verstehen will. Ich kritisiere keineswegs bloß das Abstimmen und Wählen, ich kritisiere ebenso, dass diese Rituale nur wenig bewirken, weil ihre Wirksamkeit absichtlich eingeschränkt wird.
Nicht grundlos finden in den real existierenden Demokratien dieser Welt die am Mehrheitsprinzip ausgerichteten Abstimmungen und Wahlen üblicherweise nur recht selten statt und noch seltener wird durch sie etwas unmittelbar entschieden. Stattdessen werden für das politische Alltagsgeschäft gewöhnlich Formen der Repräsentation bevorzugt. Das heißt, die, die als eigentlich entscheidungsbefugt betrachtet werden, dürfen nur in gewissen Abständen selbst etwas entscheiden, in der Zwischenzeit werden sie, in dieser Hinsicht genau wie die Insassen von Diktaturen, von jemandem regiert. Der „demokratische Souverän“, also die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger eines Staates, wird zwar bei jeder sich bietenden Gelegenheit verbal gebauchpinselt, aber die wesentlichen Entscheidungen trifft (von plebiszitär-demokratischen Elementen in dem einen oder anderen politischen System abgesehen) jemand anderer an seiner Stelle. Alles für das Volk, nichts durch das Volk lautet die Devise. Demokratie in diesem Sinne wird zurecht definiert als Regierungssystem, in dem die, die regiert werden, dem Regiertwerden zustimmen müssen. Etwas anderes bleibt ihnen ja ach nicht übrig.
Perfekt verkörpert dies das parlamentarische System Österreichs. Hier wird alle fünf Jahre über die Zusammensetzung des Nationalrates abgestimmt. Wer kandidiert, bestimmen die Parteien. Scheidet ein Parlamentarier später aus dem Parlament aus, rückt jemand nach, dem bei der Wahl überhaupt niemand seine Stimme gegeben hat. (Mir ist ein Fall erinnerlich, wo alle Nationalratsabgeordneten einer bestimmten Partei ihr Mandat niederlegten, damit ein Politiker, der weit hinten auf der Kandidatenliste, ins Parlament einziehen konnte, woraufhin die eben Ausgeschiedenen wieder auf die Liste gesetzt wurden und ihr Mandat von Neuem übernahmen. Ein Glanzstück der Demokratie!)
Aber nicht nur die personelle Zusammensetzung des Parlaments wird von Wahl nicht bestimmt — ich lasse hier die Möglichkeit der Vergabe Vorzugsstimmen außer Acht, die das System nur punktuell, nicht prinzipiell modifiziert —, sondern es gibt auch keinerlei Möglichkeit, bei der Wahl zu bestimmen, welche politischen Positionen die Gewählten vertreten werden. Die Parteien formulieren zwar Programme, aber nichts zwingt sie, sich an diese zu halten. Schaut man sich die Wahlwerbung an, so scheinen die wahlwerbenden Gruppen eher daran interessiert, die Visagen ihrer Kandidaten und irgendwelche simplen und belanglosen Slogans zu plakatieren als konkrete Zusagen zu machen. Derselbe Wähler, der angeblich alles entscheidet, wird offensichtlich für zu blöd gehalten, mehr als Stichwort zu verstehen. Dass man vom Wahlvolk nichts hält, sondern sich in Wahrheit bloß seine Unmündigkeit bedienen will, zeigt sich aber auch daran, dass man in Österreich das Wahlalter auf 16 Jahre abgesenkt hat. Mit anderen Worten, die Politik wird (der Form nach) von Menschen mitentschieden, die man andererseits nicht für erwachsen genug hält, um unbegleitet ein Auto zu lenken oder um Wettbüros oder Puffs zu betreten.
Was für Österreich gilt, gilt mutatis mutandis auch für andere parlamentarische Demokratien. Die Wählerinnen und Wähler sind mehr oder minder bloß eine Ausrede, zu sagen haben sie im Grunde nichts. Sie geben alle heiligen Zeiten ihre Stimme ab, was das Wortspiel unumgänglich macht, dass sie ab dann keine mehr haben. Außer am Stammtisch und in anderen sozialen Medien; aber das zählt nicht. Das Motto des Parlamentarismus lautet: Wir wollen uns beim Regieren von unseren Wählern möglichst nicht stören lassen, darum so wenig tatsächlich Demokratie wie unbedingt nötig, aber so viel Berufung auf Demokratie wie möglich.
Ein solches System unterstütze ich nicht. Ich will meine Stimme nicht abgeben, ich will sie behalten und mitbestimmen dürfen. Keine der sich angeblich um meine Gunst bewerbenden Parteien kann mich vertreten, ich bin einmalig und unersetzlich. Und selbst wenn es eine Partei gäbe, deren Programmatik oder wahrscheinlich Praxis ich ausreichend gutheiße, um etwas anderes als Verachtung oder Missbilligung zu verspüren, wenn die Rede auf sie kommt, selbst dann also (was nicht wirklich der Fall ist), sehe ich nicht ein, warum deren Funktionäre meinen Job machen sollen. Ich halte mich für geistig noch rüstig genug, meine Entscheidungen selbst zu treffen, meine Meinung selbst zu äußern. Ich brauche also niemanden, der mich „repräsentiert“, zumal ich es angesichts meiner regelmäßig als abseitig geltenden Überzeugungen für unmöglich halte, das irgendwer das halbwegs hinbekommt.
Ich wähle keinen, der sich zu Wahl stellt. (Zweimal habe ich, um ehrlich zu sein, eine Ausnahme gemacht bei Bundespräsidentenwahlen: gegen Kurt Waldheim und gegen Benito Ferrero-Waldner.) Und ich wähle keine Partei. Wer gewählt werden will, führt entweder etwas Unheilvolles im Schilde oder ist auf gefährliche Weise naiv. Selbst Kandidaten nämlich, die, was in seltenen Fällen der Fall ist, eben noch intelligente und Argumenten zugängliche Zeitgenossen waren, werden durchs Kandidieren zu Verteidigern von Parteilinien und damit letztlich von all dem, was die Systembetreiber so verbrechen.
Wer kandidiert, heißt das politische System im Prinzip gut und will bestenfalls Details verbessern. Man kann aber die repräsentative (also entmündigende), auf Majorisierungen (also Ausschlüssen) beruhende „Demokratie“ so wenig zu etwas Gutem machen wie den Kapitalismus. Was als Ganzes schlecht ist, muss als Ganzes abgelehnt und abgeschafft werden. Dabei darf man sich auch nicht davon irre machen lassen, das manche Systemzustände unerträglicher sind als andere.
Wer kandidiert, wäre bereit, an meiner Stelle zu sprechen. Das möchte ich aber nicht. Ich will selbst für mich sprechen. Ich wähle also niemanden und nichts. Ich wähle gar nicht. Ich gehe einfach nicht hin. Naiv, wer glaubt, seine Kritik an demokratischen Defiziten durch ungültiges Wählen Ausdruck geben zu können. In der Berichterstattung und damit der öffentlichen Wahrnehmung kommen die ungültigen Stimmen nicht vor. Auch die Wahlbeteiligung, das verhehle ich nicht, wird zwar, wenn sie gering ist oder abnimmt, gern beklagt, spielt aber keine Rolle. Es werden bemerkenswerterweise immer gleich viele Parlamentssitze vergeben, egal, wie viele Wählerinnen und Wähler an der Wahl teilgenommen haben. Aber auch die ungültigen Stimmen beeinflussen die Mandatsvergabe nicht. Sie sind noch unsichtbarer als die gar nicht abgegebenen Stimmen. Deren fehlen wird immerhin noch bemerkt. Nein, nicht ungültiges Wählen, nur Nichtwählen widerspricht dem System. Das ist dem in der Regel wurscht. Aber es bleibt die einzig anständige Alternative zur Komplizenschaft mit den bestehenden politischen Verhältnissen.
Darum gilt aus meiner Sicht: Du sollst nicht wählen!

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